Artikel vom 22. Dezember 2006
Der entfesselte Fluss
Das Südufer der Lippe wird aus seinem steinernen Korsett
befreit
Zwischen Haarener Weg und Schloss Oberwerries graben Bagger neue Ufer
Von Jörn Funke
UENTROP · Die Lippe sucht sich
ihren Weg. Sie schlängelt sich durch Auen, gräbt sich in die
Wiesen,
umfließt kleine Inseln. Steile Hänge entstehen,
Uferschwalben sausen
durch die Luft. Im Wasser tummeln sich Forellen, Biber bauen ihre
Burgen. So idyllisch ist es in der Uentroper Lippeaue noch lange nicht.
Doch an dem Naturwunder wird gebaut. Genauer gesagt: Dort wird
zurückgebaut. Bagger entfernen seit Oktober die Uferbefestigungen,
die
den Fluss in ein Korsett zwangen. Das Südufer ist zwischen
Haarener Weg
und Schloss Oberwerries bereits weitgehend entfesselt.
"Sünden der Vergangenheit"
5,5
Millionen Euro investieren die Europäische Union, das Land und der
Lippeverband, die Stadt und der Kreis Warendorf in den kommenden
fünf
Jahren in das Projekt "Life", die Renaturierung der Lippeauen. "Wir
beseitigen die Sünden der Vergangenheit", sagt Umweltdezernent
Frank
Herbst. Und meint damit die Kanalisierung der Lippe in den 1960er
Jahren. Damals, sagt Herbst, habe man die Ufer zum Hochwasserschutz
schwer befestigt. Der Fluss sollte gerade verlaufen, die Wassermassen
so schnell wie möglich abtransportieren. Ohne Wasser, so die Idee
der
damaligen Planer, gebe es keine Überschwemmungen.
Aus heutiger
Sicht sei das eine absurde Idee, sagt Herbst. Flüsse
bräuchten Raum,
das Wasser müsse eben langsam abfließen, um Hochwasser zu
verhindern.
Und deshalb solle die Lippe wieder ihre ursprüngliche Gestalt
annehmen,
sich in Schlingen, mit Sand- und Kiesbänken durch die Landschaft
ziehen. Dann seien Hochwasser sogar erwünscht, sagt Herbst. Sie
gehörten zum natürlichen Leben in einer Flussaue.
Für die
Rückkehr zur Natur haben die Bagger des Lippeverbandes in den
vergangenen Monaten jede Menge Geröll aus der Lippe geholt. Um die
Ufer
gegen die Strömung zu schützen, nahm man vor rund 40 Jahren
Abraum aus
dem Bergbau und überzog die Flussränder mit einer
Gesteinsdecke. Die
Steine, die jetzt wieder an die Oberfläche kommen, türmen
sich zu einem
kleinen Hügel. Südlich der Lippe, mehrere hundert Meter vom
Fluss
entfernt, entsteht eine Aussichtsplattform. Schließlich sollten
die
Bürger sehen, wie die Lippeaue künftig gedeihe, sagt Ulf
Rosenbaum,
stellvertretender Leiter des Umweltamtes. Erleben ließe sich die
Natur
auch auf kleinen Pfaden in Ufernähe. Einen befestigten Uferweg
werde es
aber nicht mehr geben. Der neue, weiter südlich gelegenen
Spazierweg
ist bereits fertig, ebenso der parallel verlaufende Reitweg.
Neunaugen
und Meerforellen
Wenn
der Mensch sich vom Ufer fern hält, freut sich die Tierwelt.
Oliver
Schmidt-Formann, Projektleiter beim Umweltamt, zählt da gleich ein
halbes Dutzend Tierarten auf, die in und an der renaturierten Lippe ihr
Zuhause finden: Fischarten wie das Neunauge, die Groppe und die
Meerforelle. Vögel wie die Uferschwalbe, der Eisvogel und diverse
Watvogelarten. Und irgendwann vielleicht auch der Biber. "Den haben wir
in der Region gar nicht mehr", sagt Schmidt-Formann. "Aber in Soest
gibt es einen Verein, der Tiere auswildern will." Und wenn die Biber
über die Stadtgrenze kämen, werde man sie freundlich
empfangen.